Zwölf-Stunden-Tag für Kleinkinder

In der Print-Ausgabe der Presse erschien vor einigen Tagen eine sehr gute Kolumne von Dr. Gudula Walterskirchen, die ich hier in weiten Teilen zitiere:

Warnungen von Kinderpsychiatern verhallen ungehört: Kleinkinder, die zu früh außer Haus betreut werden, haben keine gute Bindung und sind später gefährdet.

Es sind zwei Themen, die derzeit diskutiert werden und die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben: Das eine ist die Flexibilisierung der Arbeitszeit, Stichwort Zwölfstunden-Tag; das andere der dringend notwendig scheinende Ausbau der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Bei der Flexibilisierung der Arbeitszeit landete die Debatte rasch beim Thema Kinderbetreuung. Seitens der Wirtschaftsvertreter und der Politik herrscht noch immer die Ansicht vor, dass Familie einen Störfaktor in der Arbeitswelt darstelle. Bei der sogenannten „Vereinbarung von Beruf und Familie“ geht es meist nur um die Verwahrung der Kinder in diversen Betreuungsstätten – und das möglichst früh und möglichst lange.

Welche Auswirkungen dies auf die Kinder hat, spielt in den Überlegungen keine Rolle.

[…]

Seit Jahrzehnten gehen die Bestrebungen von Politik und Wirtschaft dahin, die Kinder möglichst früh und möglichst lange von ihren Eltern zu trennen. Über die Folgen dieses Trends wird nicht nachgedacht. Es sollte etwa zu denken geben, dass die Zahl von psychischen und Verhaltensstörungen bei Kindern stark zunimmt. Derzeit wird daher vehement der Ausbau der Kinder- und Jugendpsychiatrie gefordert. Das hat sicher seine Berechtigung, allerdings wird meist nicht erwähnt, was die Ursachen sind.

Hört man genau hin oder befragt Kinder- und Jugendpsychiater, erhält man eine einhellige Antwort: Diesen Kindern und Jugendlichen fehlt es an einer guten Bindung zu Haupt-Bezugspersonen – und das sind in der Regel die Eltern. Erleben sie diese nicht, hat das weitreichende Folgen. Das zeigt sich etwa bei jugendlichen Straftätern.

Ein Psychiater, der viele Jahre straffällige Jugendliche betreut hat, konstatierte, dass diese alle in den ersten zwei oder drei Lebensjahren keine gute Bindung aufbauen konnten. Herkunft und sozialer Status seien weniger entscheidend für die Gefahr, später straffällig zu werden. Eine gute Bindung und Zugehörigkeit, wie sie Kinder in einer Familie erleben, seien auch wichtig für die Ausbildung des Gewissens.

Eine fehlende oder schlechte Bindung in den ersten Lebensjahren hingegen ist für Psychiater die Hauptursache für erhöhte Gewaltbereitschaft, Aggression, Mobbing und Jugendkriminalität.

[…]

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 03.04.2017)

Gerade in Anbetracht der aktuell laufenden Debatte in Österreich zur Flexibilisierung der Arbeitszeit spielt diese Überlegung leider eine viel zu geringe Rolle. Dabei wird gefordert, dass ein Arbeitnehmer dazu gezwungen werden kann bis zu 12 Stunden an einem Tag zu arbeiten, wenn es die wirtschaftliche Situation seines Betriebes erfordert. Was das für die Freizeitgestaltung insbesondere von Eltern bedeutet ist den Interessensvertretern der Wirtschaft einerlei – die sehen in Familien schon seit längerem vorrangig ein Hindernis.

Wenn der Zwölf-Stunden-Tag einmal gesetzlich verankert ist, wird er auch eingefordert werden. Eltern sind damit vom Wohlwollen der Arbeitgeber abhängig und nicht länger Herr über die Zeit, die sie für ihre Familien benötigen. Damit werden Familien dazu gezwungen für solche Fälle eine Ganztagesbetreuung für ihre Kinder zu organisieren. Die Bedürfnisse der Kinder kommen dabei unter die Räder.

Aggression bei Kindern und Jugendlichen

PERSÖNLICHE BINDUNG UND GEWISSENSBILDUNG

Die Qualität von Bindung und Zugehörigkeit bestimmt, wie stark sich ein Gewissen ausbilden kann. Das Gewissen ist das „Gleichgewichtsorgan“, das Zugehörigkeit zu Bezugspersonen gewährleistet. Das heißt: wenn man etwas tut, das im Sinne der Bezugspersonen (zB. der Familie) gut und richtig ist, hat man ein gutes Gewissen. Wenn man aber etwas tut, das von meiner Familie als schlecht empfunden und daher abgelehnt wird, hat man ein schlechtes Gewissen und muss den Verlust der Zugehörigkeit befürchten. Diese Wahrnehmungen hängen natürlich von der Stärke der Bindung ab, z.B. von der Stärke der Bindung eines Kindes zu seinen Eltern. Wenn Kinder eine gute Beziehung zu ihren Eltern haben, ist ihre persönliche Gewissensbildung deutlich intensiver, als wenn die Kind-Eltern-Bindung schwach ausgeprägt ist.

In einer gesunden Familie haben Kinder eine Hauptbezugsperson, mit der sie den größten Teil des Alltages erleben. Das ist in der Regel zuerst die Mutter, dann Mutter und Vater. Wenn Kinder schon als Kleinkind oft weggenommen oder weggegeben werden, z.B. in einen Kinderhort oder einen Ganztagskindergarten, dann vermindert sich diese Beziehung zu den Hauptbezugspersonen, die dort ja nicht anwesend sind. Alle Ersatz – Bezugspersonen sind – insbesondere anthropologisch-biologisch betrachtet – eben nur Ersatz, niemals aber gleichwertig. Eine geschwächte Beziehung zu den Hauptbezugspersonen bedeutet folglich, dass das Gewissen

a) diesen Personen gegenüber
b) ganz allgemein

schwächer ausgeprägt wird. Fehlende Bezugspersonen verursachen also mangelnde Gewissensbildung.

So erklärt sich die allenthalben beklagte zunehmende Gewaltbereitschaft und Verrohung der Schulkinder und Jugendlichen. Probleme der Jugendkriminalität, Vandalismus, Mobbing, Gewalttaten etc. sind also insbesondere von diesem Aspekt aus zu betrachten.

FAZIT

keine Beziehung – kein Gewissen
kein Gewissen – keine Skrupel